Was Utopie ist, als was Utopie vorgestellt werden kann, ja, das ist die Veränderung des Ganzen. Und von einer solchen Veränderung des Ganzen sind all diese sogenannten utopischen Errungenschaften, die übrigens alle wirklich sehr bescheiden, sehr eng sind, grundsätzlich verschieden. Mir will es so vorkommen als ob das, was subjektiv, dem Bewusstsein nach, den Menschen abhanden gekommen ist, die Fähigkeit ist, ganz einfach, das Ganze sich vorzustellen, als etwas, was völlig anders sein könnte. Dass die Menschen vereidigt sind auf die Welt, wie sie ist. Meine These dazu, würde lauten:
Dass im Innersten alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht, wissen, es wäre möglich, es könnte anders sein, sie könnten nicht nur ohne Hunger und wahrscheinlich ohne Angst leben sondern auch als Freie leben. Gleichzeitig hat ihnen gegenüber – und zwar auf der ganzen Erde – die gesellschaftliche Apparatur sich so verhärtet, dass das, was als greifbare Möglichkeit, als die offenbare Möglichkeit der Erfüllung ihnen vor Augen steht, ihnen sich als radikal unmöglich präsentiert. Und wenn nun heute die Menschen universal das sagen, was in harmloseren Zeiten wohl nur ausgepichten Spießbürgern vorbehalten war (Ach, das sind ja Utopien, ach das ist ja nur im Schlaraffenland möglich, im Grunde soll das auch überhaupt gar nicht sein), dann würde ich sagen, das kommt davon, dass die Menschen den Widerspruch zwischen der offenbaren Möglichkeit der Erfüllung und der ebenso offenbaren Unmöglichkeit der Erfüllung, nur auf die Weise zu meistern vermögen, dass sie sich mit dieser Unmöglichkeit identifizieren und diese Unmöglichkeit zu ihrer eigenen Sache machen und dass sie also – um mit Freud zu reden – sich mit dem „Angreifer“ identifizieren und dass sie sagen, dass das nicht sein soll, von dem sie fühlen, dass es gerade ja sein sollte, aber dass es durch eine „Verhexung der Welt“ ihnen vorenthalten wird.
Theodor W. Adorno – Über Utopie (aus einem Radiointerview mit Ernst Bloch 1964)