Nichts entgeht seinen biergelben Augen

Die Agentur für Anerkennung gastiert mit »Hotel Europa. Wie hoch kann man fallen?« im Theater unterm Dach 

Von Lucía Tirado 20.04.2018 Neues Deutschland

 Foto: Kamil Rohde
Wünsche an Europa: Das Publikum konnte vor Beginn des Theaterabends beim Einchecken seine politischen Sehnsüchte aufschreiben.

Es brennt schon, das Hotel. Angezündet in der ersten Szene. Tumult auf Straßen und Gassen. Es ist vorbei mit dem bekannten Haus, seinem Mythos, der mit den verkommenen Zuständen zerfällt. Von unten aus sieht die revoltierende Menge Ignatz, den alten Liftboy, in der Dachluke stehen. Doch dort bahnt sich schon eine Stichflamme ihren Weg. Es folgt, wie es soweit kam.

Nach Joseph Roths 1924 geschriebenen Roman »Hotel Savoy« erarbeitete sich die Berliner Künstlergruppe Agentur für Anerkennung ihre Inszenierung »Hotel Europa«. Eine Unternehmung dieses Titels gab es bereits 2015 in Wien. Dort erging man sich in Endzeitstimmung. Das aktuelle, von Reto Kamberger inszenierte und eine Stunde dauernde Stück im Theater unterm Dach, das auch im Rahmen des Performing Arts Festival gezeigt werden wird, geht einen anderen Weg.

Kamberger schuf eine Collage. Roths Geschichte, seine Worte reiben sich darin an heutigen Sichten. Die sind zwar nicht unbedingt immer optimistisch und durchaus voller Fragen und Zweifel. Aber gefeiert wird hier nicht die fatalistische Hingabe. Da ist noch Leben. Der Ruf nach Aufbegehren, das dem tatenlosen Gaffen entgegensteht. Anders ließe sich das mit Anna Dieterich, Darinka Ezeta und Ana Hauck wohl gar nicht inszenieren. Wie es für die Gruppe typisch ist, bauen die Schauspielerinnen eigene Erfahrungen, Gefühl für ihren Standort und ihres Weges in und durch Europa mit ein. Sie sind bei jeder Ernsthaftigkeit in allen Gruppenproduktionen dabei voller Mut und Lebenslust. Der Schalk sitzt ihnen im Nacken. Das äußert sich auch musikalisch.

Im Rückblick der Geschichte findet Roths Ich-Erzähler Gabriel bei seiner Rückkehr aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft eine Bleibe in dem Hotel und bezieht eines der billigsten Zimmer. 703. Die Null in der Nummer ermuntert ihn zu dem Bild, das sei eine Dame zwischen zwei Herren. Links der ältere, rechts der jüngere. Noch weiß Gabriel nicht, dass er Ähnliches erleben muss. Er erkundet das Haus, spürt körperlich den zwischen den Bewohnern klaffenden Unterschied. Unten leben die Betuchten, ohne Stütze zu sein. Oben die Armen. Und die Frage drängt sich Gabriel auf: Wie hoch kann man fallen? Unterwürfigkeit kommt ins Spiel, als ein reicher Amerikaner als vermeintliche Rettung auftaucht und ihn als Sekretär einstellt. Weitere Bilder entstehen, Vergleiche bauen sich auf zur Situation im heutigen Europa.
Liftboy Ignatz fährt durch alle Etagen. Wie eine auf Beute harrende Spinne lauert er in seinem Fahrstuhl. Nichts entgeht seinen biergelben Augen. Mitunter finden sich an den Zimmertüren Zettel des Hoteldirektors Kaleguropulos mit Hinweisen und Aufforderungen. Twitter gab es ja noch nicht. Geradezu atemlos werden dessen angekündigte Besuche erwartet. Erst am Ende wird das Geheimnis um ihn gelüftet. Nichts war, wie es schien.
Ein eigens dafür erdachter Rhythmus gibt der Inszenierung besonderen Charakter. Die Geräusche – mit allerhand Alltagsgerätschaften fürs Alltagsgeräusch im und um das Hotel hervorgebracht – sind der Pulsschlag des Abends. Sie umgeben alles Scheitern und Hoffen, Mythen, Parabeln, Orakel und Gebete. Wünsche an Europa gibt es ebenfalls. Das Publikum konnte sie vor Beginn des Theaterabends beim Einchecken abgeben. Da kamen welche nach Offenheit, weniger Lügen, mehr Wertschätzung und mehr. Es lohnt, solches zu erhoffen. Doch wer soll sich darum kümmern? Wer es müsste, kokelt nicht.
Von nichts kommt nichts. Der Dramatiker Heiner Müller wird zitiert: »Der Aufstand beginnt als Spaziergang.« Also geht mal spazieren, heißt es. Und wo wurde eigentlich schon mal so gefragt wie in diesem Dialog: »Wann ist der Tag der europäischen Einheit?« – »Keine Ahnung.« Die Inszenierung kehrt am Ende zurück zu den Flammen. Der Kreis schließt sich.        Neues Deutschland 20.04.2018

 

In der taz am Wochenende vom 14.04.2018 schrieb Linda Gerner:

Wie hoch kann man fallen?

Spurensuche eines Untergangs: Agentur für Anerkennung mit dem an Joseph Roth angelehnten „Hotel Europa“ im Theater unterm Dach

Foto: Kamil Rohde

Es blitzt und donnert im „Hotel Europa“. Regen setzt ein, der Wind bläst heftig. Schauspielerin Ana Hauck schleudert ein Seil durch den Raum, um Wind nachzuahmen. Währenddessen haben ihre beiden Mitspielerinnen aus dem Berliner Theaterkollektiv Agentur für Anerkennung, Anna Dieterich und Darinka Ezeta, ebenfalls alle Hände voll zu tun: Mit Kieselsteinen, Mundtrompete, Klangschale und knisterndem Papier schaffen sie die weitere Hörkulisse. Wollte man die Requisiten zählen, die bei der Premiere des Drei-Frauen-Stücks an diesem Donnerstagabend zum Einsatz kommen, es dauerte wohl eine Weile. Auf drei Tischen liegen zahlreiche Gegenstände, darunter Luftballons, Schleifpapier, Kinderspielzeug.

Die Inszenierung von Reto Kamberger im Theater unterm Dach beginnt mit dem brennenden Hotel. In einer Stunde Spielzeit wird erzählt, wie es zum Untergang des Hotels kommen konnte, das sinnbildlich für die zerrüttete Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg steht.

In wechselnden Rollen sprechen die Schauspielerinnen im Chor oder ergänzen sich gegenseitig. Textlich bleibt das Stück nah am literarischen Vorbild „Hotel Savoy“, dem 1924 erschienenen Roman des Autoren und Journalisten Joseph Roth. Darin kommt Gabriel Dan als Kriegsheimkehrer im Sommer 1919 in das Hotel in Łódź, Polen: „Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens scheint mir das Hotel Savoy mit seinen sieben Etagen, seinem goldenen Wappen und einem livrierten Portier.“

„Wie hoch kann man fallen?“, fragt sich der von den Schauspielerinnen abwechselnd dargestellte Gabriel Dan und checkt im sechsten Stock ein. Erfolgreich ist, wer im Hotel Savoy den sozialen Abstieg statt Aufstieg schafft: In den oberen, billigen Stockwerken wohnen die Armen. Unten, dort, wo es auch Zimmermädchen gibt, die Reichen. Während oben die Uhren richtig gehen, zeigen sie in den unteren Etagen des Hotel Savoys zehn Minuten mehr an – „weil die Reichen Zeit haben.“

Die Komik von Joseph Roth funktioniert auch heute noch. Nach Lachern unterbrechen die Schauspielerinnen Roths Geschichte und erzählen von ihren eigenen Migrationsgeschichten. Was bedingt sozialen Aufstieg? Darinka Ezeta wurde in Mexiko-Stadt geboren, Ana Hauck kommt aus Georgien. Beide wollen ihre Familien finanziell unterstützen, selbst wenn sie manchmal damit hadern, ausgewandert zu sein. Was verbinden sie mit Europa? Lachende Gesichter, einen Song, ein Mobile über dem Kinderbett? Was haben verklärte Erinnerungen noch mit der heutigen Realität zu tun?

In Roths Roman trifft der nüchtern beschreibende Gabriel Dan auf eine Vielzahl von Personen. Kein einfaches Stück für Besucher*innen ohne vorherige Lektürekenntnisse. Umso besser kommen die Zwischenspiele mit persönlichen Anekdoten und kommentierenden Diskussionen der drei Schauspielerinnen beim Publikum an. Die Unterbrechungen des Erzählstrangs machen „Hotel Europa“ dynamisch und verleihen Aktualität.

„Mythos Vereinigung“ heißt es da etwa – diskutiert wird die Grundidee der Europäischen Union. „Aus alten Feinden werden alte Freunde“: Nationalstaaten verschmelzen zu einer Einheit. Aber kann das klappen? Und wie? Durch viel Liebe beim Eurovision Songcontest?

Die tragische Komik des Stückes lassen die Schauspielerinnen mit zahlreichen Klängen aufleben, der knatschende Lift und schrubbende Putzlappen transferieren das Publikum auch ohne aufwendiges Bühnenbild in die Szenerie des mysteriösen Hotels, in dem sich nicht alles, aber vieles um Geld dreht.

Die Inszenierung im Theater unterm Dach integriert dabei geschickt Slapstick-Szenen, Money-Songs und das Durchbrechen der vierten Wand, ohne in die Albernheit abzurutschen. Und zur Revolution aufgerufen wird auf der Bühne noch dazu.

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