DER HORATIER von Heiner Müller
eine HELDENBEFRAGUNG der AGENTUR für ANERKENNUNG
Premiere am 24. November 2016 im Theater unterm Dach Berlin

horatier-44 Foto: Kamil Rohde

Die Titelfigur in Heiner Müllers Stück vereint einen unauflöslichen Widerspruch in sich. Im Zweikampf erringt der Horatier einen Sieg für seine Stadt, wird aber gleichzeitig zum Mörder an seiner eigenen Schwester, weil diese den Feind – ihren Verlobten – betrauert, statt den Sieger – ihren Bruder – zu bejubeln. Wie nun umgehen mit dem Helden/Mörder? Soll der Sieger geehrt oder der Mörder hingerichtet werden? Wie lassen sich Verdienst und Schuld nebeneinander stellen, ohne dass sie sich gegenseitig aufheben?

Müllers Parabel rüttelt an unserem hehren Selbstbild: Schaffen wir das, politische Ereignisse und ihre Protagonisten vielschichtig zu beurteilen, abwägend, emotional, aber ohne Angst? Bewerten wir mit der Zukunft im Blick, oder machen wir es uns lieber bequem inmitten von Polarisierung und vorschnellen Urteilen. Wir erweitern Müllers Text um persönliche Geschichten und Erfahrungen. Wer sind unser Helden, wer unser Schurken und warum? Können wir die Widersprüche unserer Geschichte(n) aushalten und gemeinsame Zukunftsperspektiven entwickeln?

Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn
Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann
Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte
Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar
Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich.
Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche.

Konzept: Agentur für Anerkennung
Regie: Reto Kamberger
Ausstattung, Dramaturgie: Ute Lindenbeck
Chor: Anna Dieterich
Spiel: Darinka Ezeta, Homa Faghiri, Ayham Hisnawi, Katharina Merschel, Fabian Neupert

Aufführungsrechte bei henschel Schauspiel Theaterverlag
gefördert von der Heinz-und-Heide-Dürr-Stiftung
unterstützt von der Internationalen Heiner-Müller-Gesellschaft

 

Alle Fotos von Kamil Rohde

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Im Theater heute (Oktober 2017) schreibt Anja Quickert:

[…] Ebenfalls im Modus subjektiver Geschichtsauffassung hat die AGENTUR FÜR ANERKENNUNG ihre Arbeit an Heiner Müllers “Horatier“ im Theater unterm Dach wieder aufgenommen. In Müllers Adaption der antiken Legende vereint die titelgebende Figur den unlösbaren Widerspruch in sich, gleichzeitig staatstragender Held und Mörder der eigenen Schwester (=Familie) zu sein. Dass sich aus “Verdienst“ und “Schuld“ keine einfache Quersumme bilden lässt, vollziehen die fünf Protagonist*innen zuerst an den eigenen Künstler- bis Fluchtbiografien nach, bevor sie dem ungekürzten Versepos eine gemeinsame Stimme verleihen. Dabei bricht das biografische Moment die (sprachliche) Hermetik des Müllerschen Lehrstücks zwar nicht auf, im Nebeneinander von Nahem und Fernen wird das Abstrakte aber greifbarer: “Was ich nicht ertrage, ist die Unschuld der Menschen.“ (Heiner Müller)

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Gesche Beyer schreibt einen Beitrag im Performing Arts Festival Blog 2017, der von Studierenden der Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin geführt wurde:

„Raus“, so erzählt Schauspieler Ayham Hisnawi, war auch das erste Wort, das er lernte, als er nach Deutschland kam. Hisnawi ist Teil des Ensembles AGENTUR FÜR ANERKENNUNG, das im Theater unterm Dach „Der Horatier“ spielt. Lange Holzstäbe knallen aneinander, im Aikido-artigen Zweikampf gewinnt Hisnawi als Horatier gegen den Curatier, in dessen Rolle Katharina Merschel geschlüpft ist. Rhythmisches Klatschen begleitet den Kampf. Dummerweise wird der Horatier auch noch zum Mörder seiner eigenen Schwester, weil diese den Feind betrauert. Ein Luftballon zerplatzt, rotes Konfetti rieselt heraus. Unmissverständliche Symbolik: Die Schwester ist tot.
Wie nun umgehen mit dem Helden und Mörder? Wie lassen sich Verdienst und Schuld nebeneinanderstellen, ohne dass sie sich gegenseitig aufheben? Die AGENTUR FÜR ANERKENNUNG erweitert Müllers Text um persönliche (Schuld-)Geschichten. „Für diese Produktion bin ich zweimal die Woche von Brüssel nach Berlin geflogen!“, so Merschel. Verdienst oder Schuld? Die anderen Ensemblemitglieder sind sich einig: Schuld, wegen des CO2-Ausstoßes. Zur Strafe wird Merschel mit Kreppband ein Arm an die Hüfte geklebt.

Auf dem Weg nach Europa ist Hisnawi, der im Schlauchboot am Motor saß und steuerte, so schnell gefahren, wie er konnte, obwohl die anderen Angst hatten. „Aber ich wollte einfach nur ankommen.“, erzählt er. Verdienst, entscheidet das Ensemble. Zur „Belohnung“ wird ihm ein Luftballon um den Arm gehängt.
Hisnawi erzählt seine Geschichten lebhaft, ernsthaft und dabei doch mit spielerischer Leichtigkeit, immer wieder stiehlt sich ein mal verschmitztes, mal melancholisches Lächeln auf seine Lippen. Die Erzählungen der restlichen Ensemblemitglieder jedoch wirken streckenweise etwas gestelzt, die Symbolik mit Kreppband und Luftballon mutet etwas Holzhammer-artiges an, zwischendrin muss ich an Kindergeburtstag denken.
Unvermittelt und zu zuckend blauem Licht fängt Ensemblemitglied Fabian Neupert zwischendrin zu rappen an, ruft zur Öffnung der Grenzen Europas auf. Aber diese Worte, die man den Identitären ins Gesicht schleudern müsste, wirken hier auf der Bühne abgedroschen, so staubig wie die steifen ausgestopften Kostüme, die als Requisiten dienen.

Den gesamten Artikel von Gesche Beyer gibts hier.

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Stefan Bock schrieb am 25.11.2016 auf:
http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/premierenkritik_derhoratier_TuD.php
und am 28.11.2016 im freitag: https://www.freitag.de/autoren/stefan-bock/der-horatier
Auszug:
„So reflektiert man in kurzen Stücksequenzen, die mit „Text“, „Handlung“, „Verdienst oder Schuld“ und „Zukunft“ überschrieben sind, das eigene Verhalten anhand von Erlebnissen oder berichtet aus dem Probenprozess und prüft dabei Müllers Stück auf seine heutige Tragweite. Dass dabei nicht nur dröge Textexegese herauskommt, dafür sorgen ein schnell wechselnder Spielablauf und immer wieder die Hinterfragung bestimmten Thesen, die sich für das Ensemble bei der Beschäftigung mit dem Stoff ergaben.“

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Lucia Tirado schrieb im Neuen Deutschland vom 15.12.2016:

Wo ist Schuld, wo Verdienst?
[…]
Keine Angst vor Müller? Doch, da war eine erst verstörende Berührung mit dem ungewöhnlichen Sprachrhythmus der Parabel, räumen die Schauspieler ein. Eigenen Rhythmus geben sie der Inszenierung in der Regie von Reto Kamberger dazu – sauber im von Anna Dieterich einstudierten Chor sprechend, sich auf den Körper klopfend, aufstampfend, mit langen Stangen agierend. Manchmal gerät es zum Kriegsgeräusch. Schließlich geht es um Schlacht, Kampf und Mord. Der Horatier errang einen Sieg für sein Land. Aber er tötet dafür den Verlobten seiner Schwester, tötet auch sie, weil sie ihn nicht ehrt, sondern um ihren Liebsten trauert. Ist der Horatier nun Sieger, ist er Mörder? Man hält Gericht.
Für gewöhnlich stört, etwas über den Entstehungsprozess eines Stücks bei der Aufführung zu erfahren. Man will das Ergebnis, basta. Hier ist das anders. Bei der Agentur für Anerkennung geben die Akteure auch Persönliches preis. Man soll wissen, wer dort auf der Bühne steht und was er zu sagen hat. Die Inszenierung öffnet sich, ohne Kumpel des Publikums sein zu wollen. Sie macht sich lebensnäher, verletzbarer.
[…]

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